von uta » 26. Feb 2005 19:46
Diesen Beitrag fand ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und möchte ihn Euch nicht vorenthalten.
Mathematisch gesteuerte Aggression
Von Reinhard Wandtner
Wenn die Mittagsglut auf der Sahara lastet, ist es ratsam, anstrengende Tätigkeiten zu meiden. Wüstenameisen der Art Cataglyphis fortis indessen lassen sich nicht beirren. Vielmehr sausen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit über den oft 70 Grad heißen Sand. Dabei sammeln sie Insekten als Beute ein, die ein Opfer der Hitze geworden sind. Sie selbst müssen freilich darauf achten, bald ins kühle Nest zurückzukehren. Sie verlassen sich dabei auf ein zuverlässiges Navigationssystem, in das die unterschiedlichsten Informationen einfließen. Eine ganz wesentliche Stütze ist die sogenannte Wegintegration. Sie ergibt einen Vektor, der das Tier ständig über die zurückgelegte Wegstrecke und die Position relativ zum Ausgangspunkt informiert. Wie Zoologen der Universität Zürich jetzt herausgefunden haben, ist dieses Vektorverfahren von so fundamentaler Bedeutung, daß darüber sogar das Aggressionsverhalten der Wüstenameisen gesteuert wird.
Die Schweizer Forscher um Rüdiger Wehner befassen sich seit vielen Jahren mit den erstaunlichen Leistungen von Cataglyphis, sei es bei Freilanduntersuchungen in Nordafrika, sei es mit Experimenten im Labor. Unter anderem haben sie beobachtet, daß die Ameisen in unmittelbarer Nähe ihres Nestes überaus aggressiv auf Artgenossen anderer Kolonien reagieren. Schon in einigen Metern Entfernung benehmen sie sich viel friedlicher. Die Annahme, bei diesem Verhalten spielten Duftspuren aus dem Nest oder Landmarken in Nestnähe die entscheidende Rolle, erscheint plausibel. Mit einer raffinierten Versuchsanordnung haben Markus Knaden und Wehner jetzt aber nachgewiesen, daß die Aggression auch ohne derartige Äußerlichkeiten geweckt wird.
Wie die Forscher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Science" (Bd. 305, S. 60) berichten, präsentierte man den Ameisen eine Futterstelle zwanzig Meter nördlich des Nests. Die Forscher arbeiteten dabei mit vier getrennten Ameisenkolonien. Wenn die Tiere die Futterstellen erreicht hatten, wurden sie mit einem Farbtupfer gekennzeichnet. So ließen sich die Mitglieder der vier Kolonien auch später noch voneinander unterscheiden. Nach dem Markieren wurden die Ameisen in ein anderes Gelände verfrachtet und dort freigelassen. Sofort huschten sie in südlicher Richtung davon, hin zum vermeintlichen Nest. Sobald sie die entsprechende Strecke zurückgelegt hatten, hielten sie inne und suchten nach dem nicht vorhandenen Eingang.
Erklären läßt sich das damit, daß der Vektor, den ihr Nervensystem beim vorherigen Weg zur Futterstelle errechnet hatte, nun gewissermaßen in umgekehrter Richtung abgearbeitet worden war. Er war jetzt auf Null gestellt. Andere Ameisen wurden abgefangen, als sie erst fünf Meter zurückgelaufen waren, also lediglich ein Viertel des Wegs absolviert hatten. Bei ihnen war der Vektor somit noch nicht gelöscht. Sie mußten daher annehmen, noch eine beträchtliche Strecke vom Nest entfernt zu sein.
Anschließend brachten die Forscher ihre Versuchstiere ins Labor. Sie setzten jeweils zwei Ameisen, jede aus einer anderen Kolonie, in eine acht mal zehn Zentimeter große Arena. Mit einer Videokamera zeichneten sie dann das Geschehen auf. Insbesondere wurde darauf geachtet, welche Ameisen eine drohende Haltung mit geöffneten Beißwerkzeugen einnahmen oder gar tätlich wurden, indem sie zubissen und Säure verspritzten. Von 34 Konfrontationen mündeten 29 in ein mehr oder weniger aggressives Verhalten. In 21 Fällen kam es zur offenen Auseinandersetzung - die Arena wurde zum Kampfplatz. Die weit überwiegende Zahl der Aggressionen ging dabei von Tieren aus, denen ihr Navigationssystem signalisiert hatte, das Nest sei schon erreicht. Diese Ameisen waren ebenso kampflustig wie Artgenossen, die tatsächlich vom Nesteingang in die Arena versetzt worden waren.
Die Ergebnisse der Zürcher Forscher beweisen, daß der aus der Wegintegration stammende Vektor den Wüstenameisen keineswegs nur zur Navigation dient. Ihm kommt offenbar auch eine fundamentale Bedeutung beim Sozialverhalten zu. Ermittelt wird er vermutlich, indem die Tiere die Schritte unter Berücksichtigung der jeweiligen Richtung "zählen". Die Forscher versuchen das zu überprüfen, indem sie die Ameisen auf einem glatten Untergrund laufen lassen, der eine andere Schrittlänge erfordert. Unklar sind auch noch die Mechanismen der neuronalen Verarbeitung. Es gibt indirekte Hinweise auf eine Beteiligung der Botenstoffe Serotonin und Octopamin.
Gegenwärtig lotet die Gruppe um Wehner aus, wie weit der Gehorsam der Wüstenameisen gegenüber den Anweisungen des Wegintegrators reicht. Dazu haben die Zoologen ein Versuchsprotokoll entworfen, das die Tiere durch geschickte Täuschung dazu bringen soll, den vermeintlichen Rückweg zum Nest gleich mehrmals in Folge zu laufen und so über das Ziel hinauszuschießen. Dann müßte sich zeigen, ob die Ameisen dem fiktiven Vektor blind vertrauen und zum Ausgleich irgendwann sogar die entgegengesetzte Richtung einschlagen.
Quelle: faz.net
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2004, Nr. 155 / Seite N2